G. Kreis: Judentum, Holocaust, Israel, Palästina

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Titel
Judentum, Holocaust, Israel, Palästina.


Herausgeber
Kreis, Georg
Reihe
Itinera 28
Erschienen
Basel 2009: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
165 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christina Späti, Seminar für Zeitgeschichte Universität Freiburg/Schweiz Rue de l'hôpital 3 CH-1700 Freiburg Schweiz

Die von Georg Kreis unter dem Titel Judentum, Holocaust, Israel, Palästina versammelten Beiträge zeigen, wie schwierig sich nach wie vor der Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust und die Auseinandersetzung mit der Existenz des israelischen Staates und dessen Politik gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern gestaltet. Einige Artikel behandeln explizit die Shoah und die Erinnerung daran, doch auch in den anderen Beiträgen, in denen es um die Politik Israels oder die Erfahrung der palästinensischen Nakba geht, ist der Holocaust stets unterschwellig ein Thema.

Der erste Beitrag von Marlen Oehler Brunnschweiler untersucht die Bildsprache des Israelitischen Wochenblatts (IW) in den 1930er Jahren. Unter dem Aspekt der Abwehr stehen zwei Bild-Text-Narrative im Vordergrund: Zum einen die zionistisch motivierte fotografische Abbildung des «neuen Juden» in Palästina, der als Gegenstück zum verfolgten europäischen Juden inszeniert wird, zum anderen die sich ungleich schwieriger präsentierende Darstellung der menschenverachtenden Politik der Nationalsozialisten. Dabei vermitteln die Bilder und die dazugehörigen Texte (als «Narrativ der Zerstörung») die zunehmende Ohnmacht und Verzweiflung, die die Redakteure des IW angesichts der fortschreitenden nationalsozialistischen Grausamkeiten empfunden haben mussten.

Ein weiterer Artikel des inzwischen verstorbenen Heinz Roschewski thematisiert die Berichterstattung zum Massaker von Babij Jar, bei dem Ende September 1941 über 100.000 Menschen, vorwiegend Juden, von einem Sonderkommando der SS ermordet worden waren. 1943 veröffentlichte die sozialdemokratische St. Galler Volksstimme dazu einen Bericht. Dieser beruhte auf einer Reportage des Londoner News Chronicle und ist für den Schweizer Umgang mit der Shoah zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen wurde die Volksstimme seinetwegen von der Pressezensur verwarnt, da sie ohne zulängliche Beweise die deutsche Wehrmacht völkerrechtswidriger Methoden beschuldigt habe. Zum anderen zeigt der Artikel, dass bereits zu dieser Zeit durchaus Wissen über den nationalsozialistischen Massenmord vorhanden war, was aber keine Auswirkungen auf die weiterhin restriktive Flüchtlingspolitik zeitigte.

Mit dem gegenwärtigen Gedenken des Holocaust in der Schweiz befasst sich der Beitrag von Sophie Käser. Konkret geht es um den Holocaust-Gedenktag, der seit 2004 jeweils am 27. Januar begangen wird. Was in anderen Ländern schon längst Usus ist, sollte nun auch an den Schweizer Schulen zur Gewohnheit werden. Wie Käser allerdings zeigt, wurde die Aufforderung der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektionen (EDK), an den Schulen jeweils Ende Januar in geeigneter Form den Holocaust zu thematisieren, von den Kantonen sehr unterschiedlich umgesetzt. Während etwa in Obwalden oder Uri überhaupt nichts gemacht wird, sind andere Schulen in dieser Frage sehr aktiv. Insgesamt aber, zu diesem Schluss kommt Käser, ist das Interesse eher gering. Das von oben verordnete Gedenken scheint nicht von breiten Kreisen getragen zu werden – womit die weiter führende Frage nach dem Umgang mit der Shoah in der Schweiz generell aufgeworfen wird.

Zsolt Keller zeigt die diplomatische Vorsicht auf, mit der die offizielle Schweiz auf die Gründung des Staates Israel reagierte. Erst nachdem mehrere andere europäische Staaten Israel anerkannt hatten, konnte sich auch der Bundesrat zu einer solchen Handlung entschliessen. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund reagierte ebenfalls verhalten auf die Proklamation des jüdischen Staates. Nicht zu Unrecht befürchteten seine Vertreter, dass dadurch bei der Mehrheitsgesellschaft antijüdisch konnotierte Fragen von doppelter Loyalität aufgeworfen werden könnten.

Wiederum mit Aspekten von kollektivem Gedächtnis setzt sich der Artikel von Shelley Berlowitz auseinander. Sie berichtet von ihrem Forschungsprojekt, für das sie Interviews mit Palästinenserinnen und Israelinnen führt, die sich in Dialogprojekten zwischen Israel und Palästina engagieren. Deren Aussagen bettet sie zum einen in nationale Erzählungsmuster und Gefühlsgedächtnisse ein, zum anderen reflektiert sie aber auch ihre eigene Position aufgrund ihres persönlichen Hintergrunds. So kommt sie zum Schluss, dass die Konfrontation mit dem Narrativ des Anderen und die Reflexion des Eigenen für das Verständnis des Nahostkonflikts unabdingbar seien.

Roland Merk ist es ein Anliegen, ein anderes Ereignis ins westliche Gedächtnis zu rufen: die Nakba, die Vertreibung von Hunderttausenden Palästinenserinnen und Palästinensern zur Zeit des israelisch-arabischen Krieges von 1948. Die Nakba, so Merk, sei nicht nur in Israel, sondern auch in der Schweiz viel zu wenig präsent. Daher verfasste er ein Theaterstück, in dem er anhand von palästinensischen Augenzeugenberichten über die Vertreibungen informiert. Denn auch für ihn hängt die Lösung des Nahostkonflikts wesentlich davon ab, dass im Westen die Tragweite der Nakba erkannt werde, wozu auch das Theater beitragen könne.

Im Zentrum von Jonathan Kreutners Artikel wiederum steht das Bild von Israel, das in der schweizerischen Öffentlichkeit gepflegt wird. Er zeigt auf, dass die intensivere Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den westlichen Gesellschaften nach 1979 parallel zu einer zunehmend kritischen Beurteilung Israels verlief. Seiner Einschätzung nach sind nach der Shoah antijüdische Reflexe zu einem Tabu geworden, weshalb der israelische Staat als Projektionsfläche hinhalten müsse. Dies wiederum verhindere einen differenzierten Zugang zum Nahostkonflikt.

In seinem abschliessenden Essay widmet sich Georg Kreis der Frage, inwiefern kritische Beurteilungen des Staates Israel zulässig seien. Seine etwas umständlich als «Kritik der Kritik der Kritik» umschriebene Position fordert die Möglichkeit einer kritischen Einschätzung der israelischen Politik ein, ohne dass gleich der Vorwurf der ungleichen Ellen, der fehlenden historischen Perspektivierung oder der Unausgewogenheit vorgebracht werde. Als Vorbild sollten dabei gewisse innerisraelische Dispute dienen, die zeigten, dass eine engagierte Auseinandersetzung sich nicht an vorgegebenen Kategorien wie Nation oder Religion, sondern an ethischen Kategorien und der «historischen Wahrheit» orientiere.

Insgesamt wirken die Auswahl der qualitativ recht unterschiedlichen Beiträge und ihre Aneinanderreihung etwas disparat. Zwar wurde offensichtlich versucht, dem Thema und den involvierten Akteuren in mancherlei Hinsicht gerecht zu werden, doch bleiben viele Fragen offen, Tabus bestehen, und manche Aussagen wirken widersprüchlich. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen, die alle im Itinera-Band angesprochenen Themen irgendwo berühren, ist dies wohl auch nicht weiter verwunderlich.

Zitierweise:
Christina Späti: Rezension zu: Itinera 28: Judentum, Holocaust, Israel, Palästina, hg. von Georg Kreis, Basel, Schwabe Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 561-562.

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